Geschichte(n) Norwegen Highlights

Vetvika – verlassenes Idyll von bizarrer Schönheit

Titelbild Geschichte Bucht Strand Vetvika Bremanger Fjordnorwegen

Bis heute ist die abgeschiedene Bucht mit dem weißen Sandstrand am karibikblauen Meer nur zu Fuß oder einem Boot zu erreichen. Ein kleines Paradies und dennoch ein verlorener Ort, der 1951 endgültig von seinen Bewohnern verlassen wurde. Wir sind aufgebrochen, um mehr über das gleichermaßen schaurig-schöne Naturjuwel und seine dramatische Geschichte(n) zu erfahren…

Die dramatische(n) Geschichte(n) der verlassenen Häuser in der abgeschiedenen Bucht Vetvika

“… So erreichen wir die ruhige Bucht mit einem langen, glänzend weißen Strand, umgeben von einem schönen kleinen Weiler: Vetvik. Wir nähern uns den Gebäuden, leere und nackte Fensterscheiben starren uns neugierig an – aber es sind keine Menschen zu sehen. Keine Tiere in den Gehegen, kein Rauch aus dem Schornstein, keine Boote im Hafen, leere Bootshäuser und Bootsstege. Eine Tür knarrt an verrosteten Scharnieren, ein loser Fensterladen schlägt im Wind, überall herrschen Trostlosigkeit und Leere.” So beschrieb der norwegische Pfarrer Arne Eltervaag seine widersprüchlichen Eindrücke, als er 1968 am Ende einer langen Wanderung zur Vetvika die abgeschiedene Bucht erreichte.

Über 50 Jahre später, ein sonniger Oktobertag in der westnorwegischen Kommune Bremanger: Wir packen auf dem kleinen Wanderparkplatz in Svarstad unsere Rucksäcke, ziehen die Bergstiefel an und folgen dem markierten Weg zur Bucht Vetvika. Knapp 8 Kilometer sollen es bis dorthin sein, wenn man die weniger steile Route über die alte Farm Solheim wählt. Nach einer vierstündigen Wanderung durch die atemberaubend schroffe Küstenlandschaft öffnet sich der Blick tatsächlich das erste Mal auf den weißen Strand, die Wiesen sowie die felsigen Berggipfel, die diese Kulisse auf fast bedrohliche Weise überragen.

In der einsamen Bucht Vetvika

Schon bald erahnen wir, was der norwegische Pfarrer 1968 beschrieb. Die ungeheure Faszination dieses karibisch anmutenden Idylls fernab jeglicher Alltagshektik vermischt sich unweigerlich mit einem beklemmenden Gefühl, das wir eigentlich nur von tristen Plätzen mit einer unrühmlich-schaurigen Vergangenheit kennen. Aber wir sind doch ganz allein in dieser Bilderbuch-Kulisse!

Dennoch haben wir immer wieder den Eindruck, aus einem der wohl verlassenen Häuser beobachtet zu werden. Diese erregen ebenso unsere Aufmerksamkeit, wie die Grundmauern älterer Gebäude. Zudem schweift unser Blick über eine augenscheinlich bewirtschaftete Wiese und zu einem kleinen Friedhof oberhalb vom Strand. Die ganze Szenerie wirkt etwas surreal – fast so, als wären wir inmitten von Filmaufnahmen bei denen im nächsten Moment der Regisseur: „Schnitt“ ruft und die Statisten endlich aus den Gebäuden treten.

Drohnenaufnahme Bucht Strand Vetvika Bremanger Fjordnorwegen

Warum sind die Höfe heute nicht mehr bewohnt? Warum ist dieser kleine Weiler an dem paradiesischen Strand verlassen? Antworten auf diese Fragen finden wir kurze Zeit später in Dokumenten des regionalen Archivs der Provinz sowie im abendlichen Gespräch mit Svein Inge Fosse, dem Seniorchef vom Hotel Knutholmen in Kalvåg. Auf diese Weise erfahren wir von der wechselvollen Historie der Vetvika, die durch eine stete Auseinandersetzung mit den urgewaltigen Kräften des Meeres, dramatische Unglücke und einem teilweise harten Überlebenskampf der Bewohner geprägt wurde.

Die Geschichte(n) des Weilers Vetvik 

Wie ein Hufeisen liegt die Bucht tief eingeschnitten und umgeben von mächtigen Bergen inmitten der Küstenlinie von Bremangerlandet. An ihrer Südflanke ragt scheinbar direkt aus dem Meer das besonders gewaltige Bergmassiv Olderveggen empor. Dessen teilweise bizarr geformten Felsen in der Brandung lassen uns die Kraft des Meeres erahnen, sobald die häufigen und gefährlichen Stürme die Wellen meterhoch in die Bucht oder gegen die Klippen peitschen. Das Wetter kann innerhalb von Minuten auf dramatische Weise umschlagen und die eben noch spiegelglatte See zu einem laut schreienden Ozean werden, der scheinbar alles verschlingt. Nicht weniger unberechenbar sind die Windverhältnisse in dem eigentlich malerischen Amphitheater der Natur. Oft fallen heimtückischen Sturmböen abrupt von den Bergen in die Bucht. 

Zahlreiche Unglücke ereigneten sich In und vor der Bucht Vetvika

In diesen gefährlichen Gewässern und angesichts dieser Bedingungen in der Umgebung haben bereits früher viele Bewohner bei Lawinenabgängen oder auch Schiffsunglücken ihr Leben gelassen. Eine besonders dramatischen Katastrophe ereignete sich im Jahr 1810, als der Bräutigam Anders Endreson etwa 11 Familienmitglieder seiner zukünftigen Ehefrau zur bevorstehenden Hochzeitsfeier in Grotle (Bremanger Kommune) mit dem Boot abholte. Trotz schlechten Wetters stachen sie in See und haben es nie zurück in die Bucht geschafft. Statt einer geplanten Feier erlebten die Menschen in der Vetvika nun Trauer und Verzweiflung. Dabei hatte Anders als kleiner Junge selbst seinen Vater auf See verloren und hinterließ nun seine schwangere Verlobte. Natürlich führten die unberechenbaren Wetterextreme sowie die abgeschiedene Lage auch immer wieder zu langen Zeiten der Isolation. In den besonders harten Wintermonaten waren die Menschen in der Bucht damals mitunter bis zu 16 Wochen von der Außenwelt abgeschnitten – ein entbehrungsreiches Leben, scheinbar am Ende der Welt. 

Dennoch war die abgelegene Bucht ursprünglich ein lebendiger und sogar reicher Ort mit einer ersten Blütezeit im frühen Mittelalter. Damals gehörten die durchaus fruchtbaren Ländereien zu einem Klostergut, bevor sie in der Folgezeit noch einige Male den Besitzer wechselten und im frühen 19. Jahrhundert einzelne Bewohner das Recht erhielten, ihre Höfe zu kaufen. So erwarb 1835 Endre Vetvik den gleichnamigen Hof mit dem gelben Wohnhaus auf der Südseite der Bucht für 400 Taler. Der Großvater von Ivar Solheim kaufte etwa zur gleichen Zeit die Solheim Farm mit dem roten Wohnhaus an der Nordseite der Bucht. 1935 kam durch eine Hochzeit von zwei Mitgliedern der ansässigen Familien der Hof Vollen oberhalb vom Strand hinzu. 

Das Leben in der Bucht

Die Menschen hatten im Einklang mit der Natur ein gutes Auskommen und versorgten sich hauptsächlich selbst. Auf den fruchtbaren Weiden hielten sie zahlreiche Kühe und Schafe, um ausreichend Fleisch und Milch zu haben. Zudem boten die Gewässer an diesem Küstenabschnitt einen sprichwörtlichen Fischreichtum. So fuhren die Männer trotz der Gefahren regelmäßig aufs Meer hinaus, um nach Kabeljau, Flundern und Lachs zu fischen. In guten Sommern wuchsen auf den Feldern viele Kartoffeln und eine reiche Getreide- sowie Heuernte sicherte überdies meistens das Auskommen im Winter.

Alles was die Bewohner darüber hinaus benötigten und nicht selbst herstellen konnten, erwarben sie im Handel für ihre Milcherzeugnisse und den begehrten Lachs. Da der Weg zur Molkerei lang und beschwerlich war, wurde auf den Höfen die Milch direkt zu Butter und Käse verarbeitet. Die entsprechenden Erzeugnisse waren von erlesener Qualität und in den Städten der Umgebung bis nach Bergen sehr gefragt. Daher fuhren an Tagen mit gutem Wetter gleich mehrere Familienmitglieder mit Booten zu den Händlern in der Umgebung oder trugen die Last auf dem beschwerlichen Fußmarsch über die Berge. 

Die Bevölkerung der Vetvika nahm in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts stetig zu und 1900 lebten hier bereits bis zu 40 Menschen – eine kleine Kommune entstand. Die Kinder unterrichtete man wechselhaft in einem Wohnzimmer der Bauernhöfe. Dazu musste der Lehrer einmal monatlich den beschwerlichen, mehrstündigen Fußweg in die Vetvika zurücklegen, wo er dann für 14 Tage blieb, um den Kindern etwas beizubringen. Da es keinen Arzt gab, half eine alte Frau von einem der Höfe bei den Geburten, wobei es allerdings auch zu tragischen Todesfällen kam. 

Die Blütezeit der Vetvika

Bauernhof Gelbes Haus Bucht Strand Vetvika Bremanger Fjordnorwegen

1901 wurde dann sogar ein Pier mit einem Bootshafen in Betrieb genommen. Dieser sollte nicht nur den Einheimischen bessere Bedingungen bieten, sondern war auch zum Schutz der vielen auswärtigen Fischern gedacht. In den unberechenbaren Küstengewässern nach Kabeljau zu fischen war gerade für “Auswärtige” mit einem besonders hohen Risiko verbunden, ihr Leben aufs Spiel zu setzen. Bereits sechs Jahre später konnten sich hier 72 Fischer gleichzeitig in Sicherheit bringen, nachdem sie von einem heftigen Orkan auf dem Meer überrascht wurden. 

Vollkommen autark wurde man 1923, nachdem man am Rand der Bucht auch noch einen kleinen Friedhof anlegte, um die Verstorbenen jederzeit und unabhängig vom Wetter beerdigen zu können. Einmal im Jahr, bei schönem Wetter, kam der Priester in die Bucht und segnete die neueren Gräber. 

Versteckt und abgelegen – ein perfekter Ort für Partisanen

Mit dem zweiten Weltkrieg erhielt die abgeschiedene Lage der Bucht eine vollkommen neue Bedeutung. In den ersten Kriegsjahren konnten hier, unbemerkt von den deutschen Besatzern, Schiffe von den Shetland-Inseln landen. Auf dieser Route wurden Waffen für die norwegischen Widerstandskämpfer genauso wie britische Agenten ins Land geschmuggelt oder in die entgegengesetzte Richtung in Sicherheit gebracht. Allerdings kam die Gestapo 1942 hinter diese Aktivitäten und verhaftete einige Männer aus der Region, darunter auch Einwohner von Vetvik. Viele andere junge Widerstandskämpfer aus der Umgebung gingen in den Untergrund und schlossen sich zum großen Teil der aktiven Shetland-Bande von Leif Larsen an, um auf diese Weise gegen die Besatzung ihrer Heimat zu kämpfen.

Friedhof Bucht Strand Vetvika Bremanger Fjordnorwegen

Entvölkerung: Die lange Geschichte der Vetvika geht zu Ende

Mit dem Ende des Krieges blieben die Höfe in der Vetvika hinter der Entwicklung zurück, die sich fortan überall in Norwegen vollzog. Für die Bewohner in der Bucht bedeutete der technologische Fortschritt lediglich, dass sie einen Telefonanschluss erhielten. Ansonsten waren sie weiterhin von einem Straßennetz, Elektrizität oder den Angeboten eines modernen Gesundheitswesen abgeschnitten. Zudem rächte sich nun offensichtlich, dass man den kleinen Weiler nie in den Liniendienst der Dampfschiffe an der norwegischen Küste eingebunden hatten. Überdies wurde in den Gewässern vor der Bucht mit zunehmend größeren und modernen Schiffen gefischt.

Die Bewohner von Vetvik mussten aufgrund des begrenzten Hafens mit ihren kleinen Booten auskommen, die in diesem Wettbewerb quasi chancenlos waren. Die landwirtschaftlichen Methoden zur Selbstversorgung hatten ebenso wenig eine Chance gegen eine zunehmend marktorientierte Produktion in den weniger entlegenen Teilen des Landes. Im Umfeld dieser Entwicklung gingen die jungen Menschen auf der Suche nach einem besseren Leben fort und die Alten fielen weg. 

Bauernhof Haus Bucht Strand Vetvika Bremanger Fjordnorwegen

Vom Fortschritt unserer Zeit überholt

“Vetvik wurde Opfer von Technologie und Fortschritt. Wir sind alle so viel ärmer dafür.” sagte der spätere Bürgermeister von Bremanger, Reidar Torvanger, nachdem 1951 schließlich die letzten Bewohner ihren Wohnsitz in der Vetvika aufgaben. In der Folgezeit gewann die Natur schließlich wieder das zurück, was sie zuvor widerwillig aufgegeben hatte. An das frühere Leben in der Bucht erinnern nun nur noch die Hinterlassenschaften aus vergangenen, augenscheinlich besseren Tagen. Aus den stolzen Bauernhöfen voller Leben wurden für ihre Besitzer nun stille Ferienhäuser, die scheinbar einsam und verloren zwischen dem Meer und den Bergen weiterhin den Elementen trotzen. 

Aber wenn man an einem sonnigen Tag am Strand oder auf einer der Wiesen sitzt, der Brandung des Meeres lauscht, die salzige Luft schmeckt und die Grashalme im Wind beobachtet, kann man immer noch etwas vom Leben der vergangenen Generationen an diesem Ort spüren. Ein schwer zu beschreibendes Gefühl, welches fast jeden Besucher unweigerlich erfasst und dieses Naturjuwel zu einem ganz besonderen Ziel macht. 

Es war das Meer, dass Vetvik prägte, und die Menschen, die hier lebten…

Weitere Highlights in der Region:

Blick auf Kalvåg bei Bremanger in Norwegen

Quellenangabe: Historische Angaben teilweise aus dem „Kulturhistorisches Lexikon“ des Provinzarchivs Festland und © der historischen Abbildungen: https://encyclopedia.fylkesarkivet.no

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Autor / Autoren:

Conny & Sirko

... schreiben sich hier ihr ewig währendes Fernweh nach dem Norden Europas von der Seele - wenn sie nicht gerade mit ihrem Wohnmobil durch die atemberaubenden Landschaften Nordeuropas reisen, um ihre Erlebnisse und Erfahrungen mit euch in ihrem Nordlandblog zu teilen. Besucht uns gern im Bereich "ÜBER UNS" :)

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