Norwegen mit allen Sinne erleben
„Oh bitte nicht! Wartet doch noch ein wenig!
Ich sitze im viel zu warmen Auto und versuche, jegliche Luftzufuhr von außen zu unterbinden. Das Vibrieren der Schiffsmotoren scheint noch immer sämtliche Zellen meines Körpers in Schwingung zu versetzen. Wie alle anderen Menschen sehne ich mich danach, endlich die Fähre verlassen zu können. Und doch unterdrücke ich den Drang, ebenfalls den Motor meines Wagens zu starten. Es stinkt bereits genug im Schiffsbauch und ich kämpfe gegen die hoffentlich bald endende Seekrankheit an! Mir ist noch immer übel und mir ist heiß. Der Gestank von Abgasen, viel zu vielen Reisenden und abgestandenen Kochgerüchen klebt regelrecht an mir.

Mein Kopf brummt inzwischen lauter als alle Motoren und ich starre unaufhörlich auf die Klappe, die das Autodeck in eine vollgeparkte Konserve verwandelt. Viel zu langsam öffnet sie sich und lässt erstes Sonnenlicht in meine Beklemmung. Ich starte den Motor.
Norwegen – das Gefühl der Freiheit
Jedes Mal, wenn ich die Schiffsrampe passiere, fallen das Gefühl der Enge und Übelkeit ab. Mein Auto fährt hinunter – meine Mundwinkel bewegen sich nach oben. Selbst bei ungewöhnlicher Hitze (im Juni 2018) macht es mir nichts aus, eine gefühlte Ewigkeit vor der Grenzkontrolle zu warten. Geduldig reihe ich mich in den stinkenden, brummenden Wurm ein, den ein junger Norweger mit Warnweste in die entsprechenden Bahnen verweist.
Mit jedem Kreisverkehr, mit jeder Straßenkreuzung nähere ich mich der Weite. Je mehr Häuser ich hinter mir lasse, umso mehr öffnet die nordische Natur ihre Arme. Zuerst tut sie das nur vorsichtig, denn noch begrenzen Nadelbäume auf der einen Straßenseite mein Sichtfeld und auf der anderen Seite setzt der Fluss Lågen eine sichtbare wie räumliche Grenze.

Es ist noch hell, als ich meine erste Station erreiche und aus dem Auto stürze. Ich kann es kaum erwarten, meine Schuhe auszuziehen. Norwegens Gras ist weicher als der heimische Rasen. Und seine Flüsse sind erfrischender. Ich gehe zu den großen Steinen im Wasser!
Meine Welt hält den Atem an, als ich auf den abgerundeten Findlingen stehe und durch die perlende Oberfläche auf farbenfrohe Kieselsteine hinunter blicke. Das leise Flüstern der Birkenblätter am Ufer übertönt das Brummen in meinem Kopf. Glasklares Flusswasser wäscht die innere Beklemmung fort. Meine Schultern senken sich zunehmend und ich lasse mich auf das Gefühl von Freiheit ein.
Norwegen – das Geräusch von Weite
Der nächste Morgen treibt mich unbarmherzig weiter. Ich muss ins Fjell! Ich kann es kaum erwarten, endlich wieder in grünes Nichts zu blicken. Norwegens Grün ist grüner. Seine Farben leuchten prächtiger als anderswo.

Jede Kurve gibt mehr von dem preis, worauf ich mich so sehr freue: Weite. Endlich blicke ich auf eine schnurgerade Straße, über die sich ein eisblauer Himmel mit fluffigen Wolken spannt. Rechts und links davon liegen unzählbare Steine in noch unzählbareren Grauschattierungen. Die Schatten der Wolken wandern über die nur scheinbare Leere. Darin entdecke ich Flechten in allen Farben und staune immer wieder über die verschiedenen Grüntöne, wie sie eben nur große Weite erschaffen kann.
Ich wandere ein Stück weg vom Parkplatz. Nur weg von den anderen Menschen. Endlich setze ich mich und ruhe meine Augen in der Ferne aus. Ich bin ganz alleine. Stille schreit mir entgegen. Nirgendwo auf der Welt ist es stiller als auf einem Stein in einem norwegischen Fjell! Es weht kein Wind, kein Blatt raschelt. Das Geräusch der Weite bin ich: das leise Pfeifen meiner Ohren und ein immer ruhiger werdender Atem.

Norwegen – der Geruch von Weite
Verliert man einen Sinn, so erstarken die anderen. In etwa das geschieht mit meinen Sinnen auf dem Stein im Fjell. Weil sich Augen und Ohren endlich entspannen können, kann ich mich mehr auf meine Nase konzentrieren.
Der Geruch der Steine im Fjell ist schwer und mineralisch. Jedes Mal wieder kräuseln sich meine Nasenflügel überrascht, wenn ich dort an den Felsen und Gesteinsbrocken schnuppere. Während alles auf der Welt im Alter einen stärkeren Geruch bekommt, scheint es bei norwegischen Steinen genau anders herum zu sein! Kiesel und Sand, quasi das Endprodukt eines langen Erosionsprozesses, riechen kaum noch, während mir ein abgebrochenes Stück Schiefer im Fjell so viel mehr anbietet. Ich entdecke Reste von Flechten, Sonnenwärme und Mineralien.

Kaum etwas davon ist zu bemerken, als ich wieder auf meinen Füßen stehe. Es ist klar und weit und ich rieche nichts.
Ich atme leicht und unbeschwert. Die saubere Luft gelangt mit jedem Atemzug bis in meine Finger- und Zehenspitzen. Ich suche im Wortschatz der anderen Sinneseindrücke, um den Geruch der mich umgebenden Leere zu beschreiben.
Weite riecht erfrischend….“
Oh – wie sehne ich mich nach diesen Empfindungen, diesen Eindrücken und dieser Freiheit. Ich schwelge noch einen Moment in meinem Tagtraum, hänge meinen Gedanken nach – und mache mich nur etwas später, noch ganz verträumt wieder an an meine Arbeit.
Text: Marion Sorg (Blog „Meermond„)
Bilder / Illustration: Cornelia Trentsch (Nordlandblog)
Ihr habt genau die Bilder gefunden, die ich beim Schreiben im Kopf hatte. Großartig!